Mittwoch, 23. Juni 2010

Kapitel 1 "Überleben"

Hier nun der offizielle Start meiner (noch namenlosen) Geschichte :) Für Vorschläge diesbezüglich bin ich immer offen, sollte jemanden ein Geistesblitz treffen ;)
Übrigens: Dieses Kapitel könnte triggern, bzw einigen sauer aufstoßen. Ich bitte um Entschuldigung und weise nochmals auf meine "Warnung" vom Prolog hin.


Kapitel 1: Überleben


Regen. Immer und immer wieder dieser Regen. Ich kann ihn nicht mehr sehen.
Der Regen erinnert mich immer wieder daran, dass ich heute Nacht weinend einschlafen werde. Weinend vor Kummer, vor Schmerzen.
Stumm wanke ich in unsere Einfahrt in der schon der perlmutt-farbene Mercedes meines Erzeugers steht. Ich blicke an der Hausfassade hoch und sehe, dass ich erwartet werde.
Na immerhin, im Regen merkt er nicht, dass ich jetzt schon wegen ihm weine.

Die reinweiße Tür wird von meinem Schlüssel geöffnet und ich vernehme schon die Schritte auf den Treppenstufen, die immer weiter runter wandern und einen Kloß in meinen Hals pressen.

"Du nimmst wohl immer mehr Umwege, was? Zumindest an deinem Geburtstag könntest du direkt Heim kommen... Carol." Er zieht ein Lächeln über das ganze Gesicht, dass sich mir die Luft abschnürt. Mein Herz pocht, mir ist so schlecht und ich kann kaum vor Tränen sehen.
Zumindest kann er mir nichts tun, denn Vater müsste zu Hause sein, wenn man bedenkt, dass sein Wagen vor der Tür steht.
Ich gehe im Stechschritt an ihm vorbei ohne etwas zu sagen und mein langes, naturrotes Haar streift den Pullover meines Stiefbruders Nathan.
Schweigend und langsam folgt er mir gradeaus Richtung Küche.

Hastig entleere ich meine Schultasche um nach meiner Brotdose zu suchen. Wie Espenlaub zittere ich am ganzen Leib und nicht nur einmal fällt mir was aus der Hand.
Nathan beugt sich vor und legt mein Mathebuch auf den nun zugemüllten Küchentisch.
"Nanana...", sagt er und streicht mir grob mit dem Handrücken übers verheulte Gesicht. "Wer wird denn gleich weinen? Du hast doch gar keinen Grund dazu." Er beugt sich zu mir vor und ich starre ihn leblos an. "Noch nicht."
Im Affekt greife ich mein Mathebuch, kneife die Augen zusammen und schlage einfach auf Kopfhöhe zu. Es knallt. Stille.
Habe ich getroffen? Ich mag meine Augen nicht öffnen. Wenn ich ihn getroffen habe, dann muss ich mir eine Ausrede einfallen lassen, wenn Vater gleich angesprintet kommt. Wenn nicht, kann ich nur hoffen, dass Vater in die Küche rennt.
Immernoch Stille. Warum geht keine meiner Rechnungen auf? Den Knall hat man noch in der Nachbarstadt gehört, da bin ich mir sicher...

Atemgeräusche. Und es sind nicht meine.
"Carol, du hast dir heute wirklich eine Extrarunde verdient. Das wolltest du doch, oder?"
Nein, das wollte ich ganz bestimmt nicht. Ich will nicht mal, dass du mich so ansiehst. Am liebsten hätte ich es, wenn du nun tot umfällst und ich endlich meine Augen öffnen kann.
Eine Hand berührt mein grünes Shirt, das vom Regen noch durchnässt ist und an mir klebt. Lass los.
"Du bist wirklich ungezogen, Kleines. Neunzehn Jahre alt und verdorbener als ich mit fünfundzwanzig." Sein dreckiges Lachen erfüllt den Raum und er krallt sich fester an das Shirt. Wenn er so weiter zieht, bekommt mein Nacken striemen und Größe M wird zu L.
Wenn hier jemand verdorben ist, dann bist es du, Nathan. Wenn ich das doch nur laut sagen könnte, aber ich schaffe es immernoch nicht meine zugekniffenen Augen zu öffnen und mich dem zu stellen, was mich erwartet. Jeden Tag aufs Neue diese Tortur und das seit einem Jahr, seitdem Vater diese komische Frau geheiratet hat. Da fällt mir ein, es ist wirklich genau ein Jahr her. Am 30. August letzten Jahres wurde mein Leben zerstört und niemand will meine Schreie hören.

"Du kannst mich ruhig ansehen, schließlich habe ich deinen kleinen Anfall grade eben gut überstanden. Um genau zu sein, hast du den Türrahmen erwischt. Da bist du doch sicherlich froh drüber, nicht wahr?" So froh, dass ich kotzen könnte.
"Also, gehen wir gleich hoch, oder tun wir es hier oder hast du neue, versaute Ideen für uns zwei?" Er zieht mich zu sich ran und ich fühle jedes erdenkliche Körperteil von ihm. "Sieh mich an", befiehlt er, ohne eine Spur von Freundlichkeit.
Ich spüre Ekel in mir aufkeimen.
"Sag 'bitte'", flüstere ich.
"Was? Hast du was gesagt?" Er umfängt mich mit seinen starken Armen und krallt sich in meine Jeans, wo mein Po zu finden ist.
Seit ich ihn kenne ist grün die schlimmste Augenfarbe der Welt. Ich kann kein braunes Haar mehr leiden und wenn "Mann" es lang trägt, so wie er, dann breche ich auf der Straße gerne in Tränen aus und übergebe mich.
"Lass mich los, ich will das nicht." Meine Augen habe ich nun geöffnet, sehe aber permanent zu allen Seiten weg.
"Und ob du das willst, du kannst mir nichts anderes erzählen. Dein Körper und deine Augen erzählen mir täglich andere versaute Sachen, die dein Hirn bestimmt gar nicht mitbekommt." Seine Linke fässt mich hart am Hinterkopf und er presst seine Lippen an mein Ohr.
"Wenn du denkst, dass dein geliebter Vater hier ist, dann täuschst du dich. Er ist zu Fuß weg, Geburtstagstorte kaufen."
Starr blicke ich auf den Türrahmen, der dank mir leicht abgeblätterte Farbe in der Nuance "Eierschale" aufweist. Der Kloß im Hals schwillt an und ich kann kaum noch schlucken. Das Zittern hört einfach nicht auf, genauso wie die Tränen, die kühl an meinen heißen Wangen hinunterlaufen und auf seinem Bandshirt landen.
Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will dich sterben sehen, genauso wie du mir lächelnd dabei zusiehst.

Wieder schließe ich meine Augen, nehme das rechte Bein zurück und ziehe es mit Schwung hoch, in der Hoffnung seine edelsten Teile zu treffen.
"Langsam solltest du wissen, dass du keine Kraft hast, um mir weh zu tun", sagt er im sarkastischen Ton und drückt mein Bein, dass er abbremste, wieder auf den Boden der Tatsachen.
Er greift beherzt in meine Haare und zieht mich hinter sich her, die Treppen hinauf.

Ich höre ein Lied aus seinem Zimmer dröhnen. Es ist auf vollste Lautstärke gestellt und ich kenne es, ich höre es jedes Mal, wenn diese Quälerei vorbei ist. Als wir im Zimmer ankommen ertönt die Stelle, weswegen ich das Lied immer höre:

Eine zitternde Hand
ein schwankender Schritt
das Dröhnen im Kopf reißt alles mit
Ein Loch in der Brust
ein Würgen im Hals
bleiernes Schweigen, bestenfalls.
Ein Strom, der sich alles einverleibt
taumeln, stürzen, in der Leere schweben.
Du sagst, das ist alles, was bleibt
du sagst, das ist, was es heißt
zu überleben.


Mein Leiden beginnt erneut und ich wünschte mir, dieser 19. Geburtstag wäre mein Letzter.

Plötzlich steht eine weitere Person im Zimmer. Wegen der lauten Musik höre ich nicht, was sie sagt, aber Nathan springt vom Bett und lässt mich nackt dort liegen. 
Meine Stiefmutter stellt die Anlage ab und blickt uns beide entsetzt an.
Endlich...Ich muss nicht mehr um mein Leben schreien, nicht mehr flehen, dass mich jemand hört. Endlich hat das Leiden ein Ende.
Sie sieht mich mit einem Blick an, den ich noch nie an ihr gesehen habe. Ein Satz fällt im vorher stummen Raum.
"Mum, sie zwingt mich jeden Tag diese Dinge mit ihr zu tun!" Er zeigt mit seinem dreckigen Zeigefinger auf mich und zieht sich gespielt verschämt eine Boxershorts an.
Lüge!
Und trotzdem liege ich hier wie gelähmt auf dem Bett, umrahmt von billigen FHM Postern, von denen ich genauso vorwurfsvoll angesehen werde, wie von meiner angeheirateten Mutter.

"Raus...", sagt sie mit vernichtenden Blick. "Verschwinde von hier!"

6 Kommentare:

  1. Ich weiß gar nicht groß, was ich sagen soll, ausser dass ich total vom Hocker bin... O.O

    Wirklich gut. Ich mag solche Texte, und ich finds vom Stil her sehr gut... (: ich freu mich auf mehr!

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  2. Oh danke, danke Ö.Ö Freut mich, wenn jemand vom Hocker gerissen wurde :D Dann hat sich das viele Tippen immerhin gelohnt :3

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  3. WOW, das ist....das ist...irgendwie hart so vorm Schlafen zu lesen. Im Prolog steht was von "autobiografisch" und ich wünsche mir gerade dass es nicht DAS ist.

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  4. @Chaosweib: Für solche Fälle hatte ich die "Warnung" vorweggesetzt und zum Thema Autobiografie...dazu beziehe ich keinerlei Stellung :)

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  5. Habs ja schon bei Twitter gesagt, aber nochmal für deinen Blog! Wirklich richtig richtig gut geworden! Toller Stil und fesselnd. :) Glaub mir, ich habe die Woche in Thüringen oft daran gedacht, dass wenn ich wieder zu Hause bin, dass ich erst mal gucken muss ob du schon das erste Kapitel veröffentlicht hast! Kein Scherz! ^^

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  6. @Purpurwelten: Das ehrt mich total, dass du sogar in deiner "Freizeit" an meine Geschichte denkst, und hoffst, dass das erste Kapitel on is O.O Macht mich total baff und ich hoffe, dass du weiterhin von meiner Story gefesselt bist ;)

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